Ein neues Verständnis von Change
In der aktuellen Literatur wird diese organisationale Fähigkeit mit dem Begriff der »vorausschauenden Selbsterneuerung« beschrieben1. Diesem Konzept liegt die These zugrunde, dass es künftig nicht mehr ausreichend sein wird, episodische Change Management-Programme anzustoßen. Unternehmen müssen vielmehr in stetiger, proaktiver Bewegung bleiben, um ihre Zukunftsfähigkeit zu gewährleisten.
Das bisher praktizierte Change Management, dessen Ausgangspunkt in aller Regel eine wahrgenommene Not ist, die gewendet werden muss, ist in seiner Grundlogik eher reaktiv und folgt meist der Formel des Sozialpsychologen Kurt Lewin: »unfreeze – change – refreeze«! Ein stabiler Zustand wird aufgebrochen, durch ein neues Muster ersetzt, das dann wieder eine Zeit lang für Stabilität sorgt. Dieses aus den 1940er Jahren stammende Vorgehen, das meist Top-down angestoßen wird, führt nicht selten zu radikalen Umbrüchen mit den bekannten unangenehmen »Nebenwirkungen«: Widerstände bei Führungskräften und Mitarbeitern. Druck erzeugt Gegendruck.
Das Konzept der vorausschauenden Selbsterneuerung setzt auf einen kontinuierlichen evolutionären Wandel. Es zielt darauf ab, Veränderungsprozesse so frühzeitig einzuleiten, dass mit und nicht gegen die Energie der Menschen gearbeitet werden kann.
Vorausschauende Selbsterneuerung — was bedeutet das?
Der Veränderungsspezialist Hans-Joachim Gergs umschreibt das Konzept wie folgt2: »Charakteristisch für die kontinuierliche Selbsterneuerung ist erstens: Wandel beziehungsweise Veränderung ist fest in die Organisationsprozesse integriert und verläuft fortlaufend und vorausschauend. Erneuerung wird also nicht erst dann angestoßen, wenn das Unternehmen erkennen muss, dass es hinter der Entwicklung herhinkt oder bereits in einer Krise steckt. Zweitens: Der Fokus liegt nicht auf der Optimierung des Bestehenden, sondern zielt auf das grundlegende Hinterfragen und Erneuern des Geschäftsmodells oder der Kultur eines Unternehmens. Drittens: Veränderungsimpulse werden nicht nur vom Management, sondern auch von den Mitarbeitern gesetzt«.
Erneuerungsfähige Unternehmen bauen also eine kontinuierliche kreative Spannung in ihrem Inneren auf und sehen Wandel als erfüllende Daueraufgabe an. Sie setzen auf das Können, die Neugier und Kreativität aller Mitarbeiter und legen ihren Fokus weniger auf Stabilität und Bewahren, sondern auf in Frage stellen und Freude am Ausprobieren.
Der Professor für Organisation und Führung an der katholischen Hochschule Freiburg, Thomas Schuhmacher3, spricht in diesem Zusammenhang von zwei unterschiedlichen DNA’s von Unternehmen. Die eher »mechanistischen« Unternehmen zeichnen sich durch eine hohe interne Strukturiertheit, klare Arbeitsplatz- und Top down-Anweisungen sowie vertikale Kommunikation aus. Unternehmen mit einer eher »organischen« Struktur sind gegenüber neuen Problemen und sich verändernden Bedingungen deutlich offener und Kommunikation findet in ihnen sowohl horizontal als auch vertikal statt.
Ausgangspunkt — ein anderes Verständnis von Wandel
inter dem Konzept der proaktiven Selbsterneuerung steht ein anderes Verständnis von Wandel bzw. eine andere Art zu Denken und zu Handeln. Hierzu liefert der französische Philosoph und Sinologe François Jullien4 tiefe Einsichten. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit dem grundlegenden Unterschied zwischen dem westlichen und östlichen, vor allem chinesischen, Denken in Bezug auf Wandel.
Nach seinen Beobachtungen geht östliches Denken von der Betrachtung aus, dass alles fließt, alles immer in Bewegung ist und es gilt, diese vorhandene Energie zu nutzen und zu lenken. Das westliche Denken hingegen geht davon aus, dass etwas erstarrt ist und nun aufgetaut werden muss, wobei dieses Auftauen immer mit Widerstand verbunden ist. Westliches Denken ist darauf ausgerichtet, sich ein Ziel zu setzen und dieses dann auf möglichst direktem Weg (Planung, Steuerung, Change Management) zu erreichen. Östliches Denken möchte im Vorfeld auf die Bedingungen einwirken, sozusagen indirekt Einfluss nehmen, und es dann reifen lassen.
Jullien bezeichnet dieses Vorgehen als »Wandel in der Stille« und erläutert: »Ich würde sagen, es gibt zwei Arten, eine Situation zu verändern und diese Veränderung anzuleiten, und zwar ausgehend von den zwei Konzepten: 1) Modellschaffung und 2) Reifung. Die Modellschaffung besteht im Entwurf einer Idealform, die als Ziel festzulegen ist. Und dann muss man nach den Mitteln suchen, die auf dem direktesten Wege zu diesem Ziel führen. Das ist typisch europäisch. Die andere Art und Weise wird von China entwickelt. Da geht man von der Situation aus, nicht von einem Projekt, nicht von einer idealen Vorstellungsweise, die ich für mich entworfen habe, und die ich dann auf die Situation projizieren könnte. Es geht also nicht um das Projizieren, sondern allein um das Aufspüren der in einer Situation möglicherweise positiven Ansätze. Also: die möglichen Ansätze aufspüren, die begünstigenden Faktoren ausmachen und sie reifen lassen.«
Dass diese Idee von Wandel zum Teil auch schon in hiesigen Unternehmen praktiziert wird, belegen die empirischen Arbeiten von Gergs. Er beobachtete in diesen Organisationen acht Prinzipien, die sehr an evolutionären Wandel erinnern: Selbstreflexion stärken, Kommunikation und Vernetzung intensivieren, Vielfalt zulassen und Paradoxien pflegen, bezweifeln und vergessen, erkunden, experimentieren, Fehler und Feedbackkultur etablieren sowie Ausdauer und Denken in Kreisen.
In diesen Prinzipien scheint eine Unternehmenskultur durch, die sich von der Steuerungsidee verabschiedet und stattdessen auf Achtsamkeit, Gespür und Resonanz setzt; eine Kultur der Nachdenklichkeit, die um die Mechanismen organischen Wachstums weiß: »Ein Grashalm wächst nicht schneller, wenn man daran zieht«.
Notwendig — neue Organisationsformen
Es stellt sich die Frage, welche Organisationsformen diese kontinuierliche Beweglichkeit am besten unterstützen. Klar scheint, dass sich die etablierten Formen, die auf klassisch hierarchischen Steuerungs- und Arbeitsprinzipien beruhen, hiermit schwer tun und an ihre Grenzen stoßen: zu träge, zu langsam, zu wenig innovativ. Zumal Organisationen, wie auch die meisten Menschen, eher darauf angelegt sind, etabliertes Wissen zu routinisieren, eingespielte Prozesse und Vorgehensweisen beizubehalten.
Aber wie geht es anders? Viele Unternehmen sind am Ausprobieren und experimentieren und entscheiden sich für sog. »multiple Wandelstrategien«5. Nach den Beobachtungen von Rudolf Wimmer, Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen an der Universität Witten | Herdecke, entscheiden sich viele Unternehmen für eine Art Doppelstrategie, um die Balance zwischen Stabilität und Bewegung neu zu justieren. Auf der einen Seite bleiben eher traditionelle Strukturen bestehen und werden durch die Werkzeuge der Digitalisierung in ihrer Effizienz noch verstärkt; auf der anderen Seite werden Startup-ähnliche Reservate etabliert, in deren Schutzräumen unter anderen Spielregeln experimentiert werden darf, um das Neue, vor allem in Form von neuen Geschäftsmodellen, in die Welt zu bringen. Der amerikanische Berater John Kotter nennt diese Vorgehensweise die Logik der zwei Betriebssysteme.
Die Herausforderung besteht darin, die beiden Welten miteinander zu verbinden, damit es zu einer fruchtbaren Koexistenz und nicht zu einem gegenseitigen Blockieren kommt. Diese Operation am offenen Herzen, für die es keine Vorbilder gibt, stellt hohe Anforderungen an Führung bzw. Führungskräfte. Auch hier ist ein Lernprozess hin zu einem mehr kollaborativen und diskursiven Führungsverständnis unumgänglich.
Voraussetzung — neues Führungsverständnis
Der strukturelle Weg geht also hin zur Doppelstrategie oder, was auch zu beobachten ist, zu mehr selbstorganisierten dezentralen Modellen, die auf Selbstführung und Eigenverantwortung aller setzen.
In diesem Wandel wird von Führungskräften viel gefordert. Sie sollen weiterhin für Halt und Orientierung sorgen, aber auf der anderen Seite auch Agilität und Flexibilität befördern und Kommunikationsprozesse ermöglichen sowie die kollektive Intelligenz hervorbringen unter Rahmenbedingungen, die unsicher und vieldeutig sind. Kein Wunder, dass die sog. Ambiguitätstoleranz, also die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen, als eine zentrale Kompetenz von Führenden genannt wird.
Es geht aber auch um ein gewandeltes Machtverständnis, weg von hierarchischer Entscheidungsmacht hin zum Ermächtigen anderer, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Aus der steuernden, regulierenden und anweisenden Führungskraft wird die dienende Führungskraft (Stichwort: Servant Leadership), die über Kontext und Werte den sinnstiftenden Rahmen setzt, den Zielkorridor und Spielregeln fixiert, Hindernisse beseitigt und ihre Erfüllung im Ermächtigen und Coachen der Mitarbeiter findet. Es geht künftig weniger um die Durchsetzung eigener Interessen, sondern mehr um das Stakeholder sein für gemeinschaftlich definierte Ideen und Konzepte. Mächtig wird, was Resonanz bekommt.
Dieser Wandel im Führungsverständnis setzt eine reife Persönlichkeit voraus, oder wie es der Schweizer Sozialpsychologe Dr. Felix Frei6 nennt, eine gewisse Reife der »persönlichen Handlungslogik«. Er versteht darunter die ausgebildete Fähigkeit einer Person zur selbstkritischen Reflexion, zuwr konstruktiven Auseinandersetzung mit Andersartigkeit und zur wirklichen Einfühlung in die Wahrnehmungswelt anderer.
1+3 Vgl. Thomas Schuhmacher. Vorausschauende Selbsterneuerung. Aus: Thomas Schuhmacher (Hrsg.) Professionalisierung als Passion. Auer Verlag. 2013 Vgl. Hans-Joachim Gergs. Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung. Beltz Verlag. 2016
2 Interview mit Hans-Joachim Gergs: »Sich verändern müssen, ohne ein Vorbild zu haben.« In: Der Standard. Ausgabe 25. | 26.02.17
4 Nicht an den Setzlingen ziehen. Im Gespräch mit Francois Jullien. In OrganisationsEntwicklung Nr. 1 |2010
Siehe: Change im Fluss der Dinge. Klaus Doppler, Fritz B. Simon und Rudi Wimmer in einem Trialog über Prinzipien des Wandels. In OrganisationsEntwicklung Nr. 3 | 2017
6 Felix Frei. Im Fluss. Unbehagen am Change Management. Verlag Dustri Pabst Science Publishers. 2014